Akane kam nicht umhin zu lächeln, während sie sich mit Moe unterhielt. Die Rothaarige mochte bereits länger als sie Genin sein, doch in ihrem Herzen war sie noch immer ein Kind. Vielleicht sogar mehr als für ihr Alter üblich war. Ihre Abneigung gegenüber Jungs, das Leugnen von Interesse, dass alles hatte sie bereits bei Gleichaltrigen erlebt. Nun gut, die Abneigung gegenüber dem anderen Geschlecht bezog sich dabei nur auf mehr oder minder Fremde und Freundschaften zwischen einem Jungen und einem Mädchen waren dennoch möglich gewesen. Die Sakkaku war sich aber nicht so sicher, ob diese Definition auch auf Moe zutraf. Für den Erfolg dieser Mission war es jedoch auch nicht wichtig was genau nun der Fall war.
Wichtig war, dass sie beide sich mit Elan an ihre Aufgabe machen konnten. Dafür schien die Jüngere jedoch erst noch etwas zu brauchen, denn diese zückte ein Siegel. Zu Akanes Erstaunen holte sie allerdings nichts heraus, was ihnen direkt bei der Arbeit helfen würde, sondern... „Ein Teddy?“ Und was für ein Teddy. Dieses Stofftier sah mehr aus, als würde es zu einer Teeparty von hochdekorierten Gentleman passen, als das Mr. Brummig auf einer Skipiste gut aufgehoben wäre. Für die Rothaarige schien er aber perfekt geeignet zu sein für diesen Job und es war in ihren Augen wohl auch ganz normal Schriftrollen mit Stofftieren mit sich herum zu tragen. Und wer war Akane, dass sie der Jüngeren ihre kindliche Illusion nahm? „Nicht das dem armen Kleinen kalt wird.“, merkte sie deswegen nur an, ehe sie Moe zur Seite eilte und beim Auseinanderrollen des Zaunes half. Gemeinsam reichten die Kräfte der beiden Mädchen gerade so aus um die Arbeit ohne größere Probleme zu verrichten, zumindest bis zu dem Augenblick, wo ihre Partnerin mit einem Mal den Zaun los ließ und Akane für einen kurzen Moment damit zu kämpfen hatte nicht mitsamt dem Zaun im Schnee zu landen. Erst nachdem sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte konnte sie sich nach Moe umsehen, nur um zu entdecken das es heutzutage wohl kaum noch Menschen gab, die eine gut gemeinte Warnung – wenn auch als Verbot formuliert – nicht zu schätzen wussten.
Bevor die Braunhaarige dem anderen Mädchen hinterher gehen und bei der kommenden Auseinandersetzung zur Seite stehen konnte, hatte jene die Sache schon in die eigenen kleinen Hände genommen und bombardierte die uneinsichtigen Jugendlichen schlichtweg solange mit Schneebällen, bis jene die Flucht ergriffen. Der Anblick war ein zu göttlich, sodass Akane gar nicht darum herum kam herzhaft zu lachen. "Denen hast du es aber gezeigt!", rief sie noch immer lachend. Danach winkte sie Moe wieder heran, sodass sie zusammen weiter den Zaun errichten konnten.
Davon unbemerkt schlich sich die Gruppe von Jugendlichen weiter oben wieder auf die Piste. Die Ladung Schneebälle schien nur kurzzeitig für Einsicht bei ihnen gesorgt zu haben, sodass sie dieses Mal versuchten schlauer zu sein, indem sie sich einfach etwas weiter entfernt von der kleinen Furie aufhielten. Doch wie man vielleicht schon merken konnte, war es mit der Schlauheit dieser Gruppe nicht weit her, sodass sie sich trotz aller Heimlichkeit lautstark miteinander unterhielten. Es war deswegen also kein Wunder, dass sowohl Moe wie auch Akane erneut auf sie aufmerksam wurden. "So dämlich kann doch kein Mensch sein." Mit einem Seufzen beendete die Schalträgerin das, was die beiden Mädchen gerade taten, sodass der Zaun endlich errichtet war, ehe sie sich auf den Weg die Piste hinauf machte um den Jugendlichen mal ein paar Töne zu takten. Dabei bedeutete sie ihrer Partnerin beim Zaun zu bleiben. Nicht das die Kleine noch einen Mord beging, indem sie die Gruppe unter einem Hagel aus Schneebällen begrub.
Ein Geräusch ließ Akane jedoch inne halten, kaum das sie ein paar Schritte gegangen war. Es klang wie das Rauschen eines Wasserfalles; tosende Wassermassen, die einen Berg hinab stürzen. Doch in einem Skigebiet gab es keine Wasserfälle. Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken, als sie ihren Kopf in die Richtung der Geräuschquelle drehte.
Schnee.
Ein Wasserfall aus Schnee floss den Hang, auf dem sie alle standen, mit all seiner Masse und Macht hinunter, bereits alles mitzunehmen was auf dem Weg lag, um es unter sich zu begraben. Und sie standen mitten im Weg. Es gab kein Entrinnen. Egal, wie schnell und ausdauernd Moe sein mochte, der Rest von ihnen war es nicht. Doch auch der Rotschopf konnte keiner Lawine davon laufen.
Die Sakkaku stand vor einem rasch näher kommenden Dilemma. Weder sie noch Moe konnten diesem Ungetüm entkommen, geschweige denn auch nur einen der Jugendlichen retten.
Doch sie war die Teamleiterin! Auch wenn Moe meinte, dass es in einem Team keinen Nutzen für einen Anführer gab, so war sie es offiziell. Und in dieser Position war es ihre Pflicht nicht nur für die Erfüllung der Mission, sondern auch für das Wohlergehen ihres Teams zu sorgen. Gleichzeitig konnte sie es nicht verantworten, dass Passanten zu Schaden kamen.
Es blieb jedoch keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Die Zeit lief davon, der Schnee auf sie zu und es gab nichts, was sie tun konnte um irgendwen zu retten. Dennoch musste sie handeln. Ohne länger zu zögern drehte sie sich auf den Hacken um, den Blick auf Moe gerichtet und den Rücken zur nahenden Gefahr gewandt. Manchmal musste man seinem Feind den Rücken zuwenden, um eine Aufgabe zu erfüllen.
Kurz bevor die Lawine sie erreichte schlossen sich Akanes Arme um Moe, ihren Körper als nutzlosen Schutzschild für die Rothaarige nutzend. Es würde keinen großen Unterschied machen, ob die Lawine nun die Jüngere direkt oder die Wucht zuerst auf die Sakkaku traf, doch es sorgte dafür, dass sie beide beieinander waren, als der Schnee sie umriss, die Welt auf den Kopf stellte und sie und die Jugendlichen unter sich begrub. Aus diesem Grund setzte die Braunhaarige alles daran, dass sie Moe fest umklammert hielt, während sie umher geschleudert wurden, in der Hoffnung, dass ihre Muskeln sich nicht aus dieser Haltung lösten, selbst als sie nach einer beinahe unendlichen Zeitspanne das Bewusstsein verlor.
Ein unendlich schwarzer Raum erstreckte sich rund um sie herum. Es gab keine Lichtquelle und doch konnte sie so gut sehen wie am helllichten Tag. Es gab jedoch nichts zu sehen. In alle Richtungen einfach gar nichts. Sie konnte nichts anderes tun als wahllos los zu laufen, in einer schwarzen Welt in der es nichts gab, nicht einmal die Geräusche ihrer eigenen Schritte.
Irgendwann kam etwas in Sicht. Ein leuchtend heller Fleck in der Schwärze. Ein Thron aus Metall und Samt. Ein Thron, in dem sie sich selbst sitzen sah. Doch es gab eindeutige Unterschiede zwischen ihr und dem Wesen, das dort auf dem Thron saß. Beim näher kommen konnte sie nämlich erkennen, dass diese andere Ausgabe von ihr nur eine Puppe war. Ein totes Stück Holz, welchem man ihr Antlitz verliehen hatte. Ihr Antlitz, aber nicht ihre Kleidung. Stattdessen war die Puppe gehüllt in ein schneeweißes Kleid, dass einem langem Nachthemd glich. Auch fehlte der Schal, der ein wichtiges Merkmal der Sakkaku war.
Als Akane den Thron erreicht hatte blieb sie davor stehen und betrachtete die Puppe. Ihr Blick wanderte von den geschlossenen Augen über die schlaffen Glieder zu den hölzernen Gelenken. Es erinnerte sie an die kleine Puppe, die der rotäugige Mann bei ihrer Geninprüfung bei sich hatte. So fein gearbeitet und hübsch. Sie konnte nicht anders als sich zu der Puppe hinunter zu beugen, ihr eigenes Gesicht ganz nah an dem ihres hölzernen Ichs, und mit ihren Fingern zuerst über die Wange und dann über das aufgemalte Lächeln zu streichen.
Gerade, als sie sich sich wieder aufrichten wollte, kam Leben in die Puppe. Die hölzernen Augenlider klappten mit einem leisen Klicken nach oben und offenbarten die Augen der Puppe. Es gab keine Pupille, kein Augenweiß. Nur ein durchdringendes Lila. Gleichzeitig verzogen sich die roten Linien des Mundes zu einem grausamen Grinsen und es war ein Geräusch zu hören, das sie zuerst nicht zu deuten wusste. Dann jedoch zog sich der Schal um ihren Hals enger zusammen und ihr wurde klar, dass sich soeben die Arme der Puppe bewegt und die herunterhängenden Enden ihres Schales ergriffen hatten. Während sich die Schlinge immer fester um ihren Hals zog und ihr den Atem stahl, schien in die Puppe immer mehr Leben zu kommen. Das Holz wurde zu Fleisch, das durchgängige Lila zu roten Augen und die Farbe zu Lippen.
Kurz bevor die Schwärze vor ihren eigenen Augen endgültig wurde konnte sie noch die Worte der ehemaligen Puppe vernehmen, die jene voller Hohn aussprach: „Püppchen, Püppchen, spiel mit mir.“
Gewicht drückte auf ihre Brust, als sie erwachte. Erneut gab es nichts zu sehen, doch dieses Mal gab es keine schwarze Unendlichkeit, sondern nur weiße, bedrückende Wände. Zu ihrem Unglück waren es noch dazu nicht irgendwelche Krankenhauswände, sondern zusammengedrückte Massen von Schnee. Und das überall um sie herum. Oben, unten, rechts, links, einfach überall! Ohne, dass es ihr selbst bewusst wurde, wurde ihr Atem schneller und ihre Augen begannen hektisch umher zu zucken, auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg.
„Du kommst hier nicht raus~“
Statt einem Ausgang entdeckte sie stattdessen etwas gleichzeitig beruhigendes und beunruhigendes. Rotes Haar. Ein paar rote Strähnen, die an ihrer Seite hinunter hingen.
Moe.
Bei dem Gewicht auf ihrer Brust handelte es sich um die kleine Kunoichi, die wie durch ein Wunder – oder Unglück – zusammen mit Akane unter dieser elenden Lawine begraben war. Das mochte zwar ihrem Plan entsprechen, doch im Nachhinein wurde ihre klar, dass es ein denkbar ungünstiger Umstand war. Zwei Menschen verbrauchten mehr Luft und nahmen noch dazu mehr Platz in dem sowieso schon engen Bereich ein. Und vor allem letzteres stellte für Akane ein gravierendes Problem dar.
„Das wird dein Grab sein~“
Ihr Blick huschte immer hektischer umher und trotz dem Gewicht, dass ihre Bewegungen einschränkte, versuchte sie den Schnee neben ihnen weg zu schieben, weg zu drücken oder auf sonst eine erdenkliche Möglichkeit zu beseitigen. Es hatte keinen Zweck. „Hilfe!“ Niemand würde sie hören. Ihnen würde die Luft ausgehen und ihre Leichen würden erst gefunden werden, nachdem es schon zu spät war.
Normalerweise hatten Menschen, die unter einer Lawine begraben wurden, noch 15 Minuten zu leben. Doch das galt nur dafür, wenn eine einzelne Person um ihr Leben kämpfte. Wie viel Zeit blieb ihnen zu zweit?
„Sie stiehlt dir deine Luft!“
Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen. Jeder, der in diesem Augenblick in die Augen der Sakkaku geschaut hätte, würde einen Whirlpool aus panischer Angst und Wahnsinn zu sehen bekommen. Die Art von Wahnsinn, die sie seit Jahren verfolgte und nun erneut drohte über sie zu gewinnen. Sogar, wenn es dann trotzdem für ihr Ende sorgen würde, so wollte sie nicht, dass das Monster in ihr für den Tod der Jüngeren sorgte, nur um für kurze Zeit mehr Luft zu haben.
„Helft uns!“ Hoffnungslosigkeit ergriff das Herz der Sakkaku. Wenn das arme Mädchen nur wüsste, dass sie sich nur wenige Zentimeter unter der Schneedecke befanden und eine gut gezielte Anstrengung bereits für Sonnenlicht und Luft sorgen würde, so hätte sie wahrscheinlich etwas unternehmen können. Doch die Panik vernebelte ihre Sinne so sehr, dass sie nicht einmal annähernd auf diese Idee kam, geschweige denn, dass die Bergwacht sich schon längst auf der Suche nach ihnen und den Jugendlichen befand.
In ihren Augen war alles verloren und es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie und die Jüngere in diesem kalten Grab starben, sei es durch Luftmangel oder den Wahnsinn in ihrem Kopf.