Hiroshi, immerzu Hiroshi! Warum lief es eigentlich immer darauf hinaus? Seit dieser S-Rang-Mission war irgendwie alles anders, und es wirkte sich offenbar so sehr auf ihre Umwelt aus, dass alle Welt davon Notiz nahm. Entweder – wie die Dame bei der Verwaltung oder der Herr, der die „emotionale Stabilität“ überwachte – hatte man anscheinend das Bedürfnis, sie wie ein kleines Mädchen mit Samthandschuhen anzufassen, oder man verhielt sich – so wie ihre werten Zimmerkollegen – betont normal, als hätte es nie einen Hiroshi gegeben und machten den Alltag noch alltäglicher. Bisher wurde sie ausgerechnet von der Hyuuga auf dieses Thema angesprochen, aber selbst die hatte sich sehr schnell zurückgezogen. Kein Wunder, bedachte man dieses prekäre Thema und die Tatsache, dass eigentlich niemand einen Kollegen verlieren wollte, und schon gar nicht auf so eine Weise. Wenn er wenigstens artig im Kampf gefallen wäre, könnte man wenigstens anständig um ihn trauern und ihn im Nachhinein glorifizieren. Das war irgendwie einfacher. Aber wie sollte man um jemanden trauern, dem selbst aus der Pflicht heraus die Kehle durchgeschnitten hatte? Gab es überhaupt eine Steigerung für diese schmähliche Art, elendig an einem offenen Hals und eingetunkt in Salzwasser zu verrecken? Wohl kaum.
Und jetzt kam auch noch der Jounin hier an, der bei der letzten Mission einen etwas eigenwilligen, aber nicht unsympathischen Eindruck gemacht hatte, und verbrannte erstmal symbolisch und mit einem Lächeln das Regelbuch vor ihren Augen und ihr erzählte, dass ein Teamleiter mit sich im Reinen sein sollte. Ja, war ihr Konflikt in dieser Sache denn äußerlich gesehen so offensichtlich, dass gleich zwei Leute unabhängig voneinander sie darauf ansprachen und eher besorgt als wütend erschienen? Ein junger Mann war tot, und man machte sich Sorgen um ihr Seelenheil. Junko wusste nicht genau, ob sie wütend, dankbar, frustriert oder traurig darüber sein sollte. Ein flotter Mix aus allem erschien logisch, brachte aber einen unangenehmen Nebeneffekt mit sich: Spontaner Anfall von triefendem Zynismus, der von einem abfälligen Gesichtsausdruck begleitet wurde.
„Recht so. Verbrennen wir alle Regeln und Normen, auf dass wir alle frei und ungehemmt leben können. Demnächst tanzen wir auf den Hokageköpfen Cha-Cha-Cha in schwarzen Lackkleidchen und besingen die Leichtigkeit des Seins, hm?“ Der geneigte Leser ist an diesem Punkt dazu aufgefordert, sich das jetzt nicht bildlich vorzustellen. Zu spät, hm?
Außerdem musste die Chuunin zugeben, dass sie sich gerade in diesem Moment so richtig schön in Rage redete. Natürlich belastete sie die Gesamtsituation, aber es war ihr schleierhaft, wie das auf einmal all diese furchtbar empathischen Menschen hervorbringen konnte, die sie doch sonst keines weiteren Blickes gewürdigt hatten. Kein Wunder also, dass sie die nachfolgende Predigt in einer Aaaart und Weeeiiise betonte, die alles üüüüüübermäßig dramatisch erklingen ließ … seeeeelbst wenn es das nicht war.
„Gut, ich spiele mit. Sie werden ja ohnehin nicht lockerlassen, nicht wahr? Meinetwegen. Ich habe Hiroshi einen Tag nach meiner Geninprüfung kennengelernt, nachdem er gerade das erste Mal durch das Chuuninexamen gefallen war.
Er hielt mich für ein aufmüpfiges kleines Mädchen und ich hielt ihn für einen langgezogenen Idioten. Wir trafen uns dann bei seinem zweiten und meinem ersten Chuuninexamen wieder, und siehe da, ich war in seinem Team und hatte mich ihm unterzuordnen, denn ich war ja noch frisch. Ich habe ihm ständig vorgeworfen, nicht nachzudenken, und er hat mir vorgeworfen, mich stets nur an die Regeln zu halten. Und wissen Sie was? Bis zum Ende hat er mich immer noch für diesen Akademiefrischling gehalten, oder wahlweise auch für irgendein Mädchen, welches ihn anhimmelt. Ich bin immer noch der festen Überzeugung, Opfer eifersüchtigen Balzverhaltens seinerseits geworden zu sein. Schweig. Still. Mein. Herz.“
Na, Herr Jounin? Genug Herzschmerz und therapeutisches Gerede? Junko hatte eigentlich vorgehabt, sich vollends über diese Geschichte lustig zu machen und erweckte auch ohne Zweifel den Eindruck – aber irgend etwas lief schief. Irgend etwas „klemmte“. War da am Ende doch noch Trauer, doch noch Schmerz? Ach, I wo.
„Genug Elend? Oder soll ich weitermachen? Wissen Sie, ohne eine Prise Dramatik mag ich es gar nicht, in einer Tour einen toten Chuunin zu bejammern. Warten Sie, hier fehlt noch was. Was kann es nur sein?“ Gespielt nachdenklich tippte sie sich mit dem Zeigefinger auf das Kinn, ehe ihr in einem augenscheinlichen Moment der Erleuchtung die Erkenntnis kam und sie schnippte.
„Das war es!“ Mit einer schnellen und geschmeidigen Bewegung hatte die Kunoichi einen Satz zurück gemacht, sodass sie nun nur Millimeter entfernt auf der Kante oder eher auf der Regenrinne des Daches, während sie in einer unendlich langsamen Bewegung die Arme ausstreckte, um Balance zu demonstrieren. Sie brauchte jetzt nur einen falschen Schritt machen und nur schwanken, und schon konnte es möglicherweise zu einem Sturz kommen. Junko schätzte die Situation jedoch beileibe nicht als gefährlich ein. Sie war stabil genug, um auf einem Seil zu tanzen. Was konnte ihr da schon auf einer glitschigen Regenrinne passieren?
„Nur ein Schritt. Es sind immer Schritte, nicht wahr, Hideki-san?“ Und jetzt, wo sie gerade darüber sprach und sie sich eigentlich über diese Situation gekonnt lustig machen wollte, gesellte sich eine Erkenntnis hinzu, die wie ein unwichtiges Detail leise und flüsternderweise an die gesamte Predigt gehängt wurde, in der Hoffnung, dort wie ein unnötiger Appendix vergessen zu werden. „Ich verstehe es nicht …“